Der Dr. Brinkmann-Moment

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Inga Bergen ist eine erfahrene Beraterin und Visionärin im Bereich Digital Health. Sie hat mehrere Health-Tech-Startups begleitet, den erfolgreichen Podcast „Visionäre der Gesundheit“ ins Leben gerufen und wurde vom Business Punk Magazine zu einer der Top 10 Health & Science Persönlichkeiten Deutschlands gewählt.

Von Andrea Buzzi, Podcast-Host E-Health-Pioneers, 03. März 2023

Patient Centricity als zentrales Prinzip im Gesundheitssystem

Andrea Buzzi: Inga, ich hätte deine Anmoderation noch viel länger machen können. Du kämpfst wie eine Löwin für eine bessere Gesundheitsversorgung. Was treibt dich an?

Inga Bergen: Danke für die lieben Worte, Andrea! Mein Antrieb ist das Thema „Patient Centricity“ – oder auch „Human Centricity“, denn es betrifft nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die vielen anderen Akteure im Gesundheitssystem. Es gibt so viel zu tun und ich sehe in jeder Herausforderung eine Chance, das System ein Stück besser zu machen. Und auch wenn die Fortschritte oft klein sind, bleibt der Bedarf riesig. Es ist ein extrem lohnendes Feld, in dem ich mich sehr gerne bewege.

 

Customer Centricity im Gesundheitsbereich: Eine übertragbare Idee?

Andrea Buzzi: Der Begriff „Customer Centricity“ ist im Marketing fest verankert. Kann man dieses Modell auch auf den Gesundheitsbereich übertragen? Oder ist es falsch, Gesundheit als Konsumgut zu behandeln?

Inga Bergen: Man muss es sogar übertragen! Viele Probleme im Gesundheitswesen resultieren daraus, dass nicht nutzerzentriert gedacht wird. Ein gutes Beispiel sind DiGAs – Apps auf Rezept. Wir haben hier erstmals Transparenz über die Nutzung, weil sie digital und damit messbar sind. Und oft sehen wir, dass nur ein Bruchteil der Nutzer

die App tatsächlich nutzt, was zeigt, dass die Bedürfnisse der Menschen nicht immer ausreichend berücksichtigt werden.

Andrea Buzzi: Gamification scheint ja zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Hilft das, die Nutzung solcher Apps zu steigern?

Inga Bergen: Absolut! Studien belegen, dass Gesundheitslösungen, die Gaming-Elemente enthalten, viel erfolgreicher sind. Das Ziel ist, die Menschen zu motivieren und ihr Engagement zu fördern. Viele DiGA-Anbieter könnten noch viel mehr davon profitieren, wenn sie stärker darauf achten, was Nutzer:innen wirklich anspricht.

 

Ein System, das auf Krankheit statt auf Gesundheit setzt?

Andrea Buzzi: Viele Menschen haben das Gefühl, dass unser Gesundheitssystem vor allem darauf ausgerichtet ist, Krankheiten zu behandeln, statt Gesundheit zu fördern. Warum sollten die Akteure, die von Operationen und Medikamenten profitieren, etwas daran ändern?

Inga Bergen: Das ist das Dilemma. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene geht es natürlich darum, das zu tun, was Geld bringt. Das System setzt Anreize für bestimmte Eingriffe, wie Herzkatheter oder Knieoperationen. Aber viele Akteure im System wünschen sich tatsächlich eine outcome-orientierte Vergütung, die den Erfolg einer Behandlung und nicht die Quantität honoriert.

 

Digitalisierung und Prävention: Der Schlüssel zur Transformation

Andrea Buzzi: Du hast schon erwähnt, wie wichtig Digitalisierung ist. Spielt sie auch bei der Prävention eine Rolle?

Inga Bergen: Unbedingt. Unser Gesundheitssystem greift meist erst ein, wenn Menschen krank sind, aber digitale Tools könnten Prävention viel attraktiver machen. Mithilfe von Trackern oder Apps könnten wir frühzeitig warnen, wenn jemand ein Risiko für Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat. Es geht darum, konkrete Informationen bereitzustellen, damit Menschen wissen, was sie ändern können, bevor es zu spät ist.

Andrea Buzzi: Aber sind die Menschen schon bereit für diese Veränderung?

Inga Bergen: Viele sind es! Denken wir an den Podcast von Dr. Anne Fleck – einer der erfolgreichsten in Deutschland. Das zeigt, dass ein großes Interesse an Gesundheit und Prävention da ist. Aber unser System unterstützt diese Eigeninitiative kaum. Es gibt nur minimale Budgets für Prävention und die meisten Angebote beginnen erst, wenn eine Diagnose gestellt wurde.

 

Ärzte und Patient:innen: Das veränderte Informationsverhalten

Andrea Buzzi: Immer mehr Menschen informieren sich online über ihre Gesundheit, oft bevor sie zum Arzt gehen. Wie beeinflusst das das Verhältnis zwischen Arzt und Patient?

Inga Bergen: Das Informationsverhalten hat sich massiv verändert. Früher vertraute man voll auf den Arzt, heute informieren sich Patient

selbst und wollen oft mitreden. Das stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen. Der Arzt kann nicht mehr alle Antworten haben, und es braucht eine neue Art von Dialog – auf Augenhöhe.

Andrea Buzzi: Denkst du, dass Influencer und soziale Medien die Machtverhältnisse in der Gesundheitsversorgung verändern?

Inga Bergen: Ja, wir sehen schon jetzt, wie viele Menschen ihre Gesundheitstipps von Influencern und Expert:innen aus den sozialen Medien bekommen. Dabei könnte es in Zukunft sogar Chatbots geben, die im Stil von bekannten Ärzt:innen wie Dr. Anne Fleck kommunizieren. Das könnte vielen Menschen den Zugang zu Wissen und Unterstützung erleichtern.

 

Patient Centricity und die Zukunft der individuellen Medizin

Andrea Buzzi: Führt Patient Centricity auch zu einer individuelleren Medizin?

Inga Bergen: Ja, ganz klar. Wir sehen schon jetzt, dass die Zukunft der Medizin in personalisierten Therapien liegt, die auf genetischen Daten basieren. Aber um diesen Schritt zu gehen, brauchen wir Daten – und zwar in einer Qualität und Quantität, wie sie heute nur durch digitale Systeme verfügbar gemacht werden können. Wenn wir das schaffen, können wir Krankheiten viel gezielter behandeln.

 

Die elektronische Patientenakte: Ein Gewinn für alle

Andrea Buzzi: Du hast dich für die Opt-Out-Regelung bei der elektronischen Patientenakte (ePA) starkgemacht. Wie profitieren Patient:innen davon?

Inga Bergen: Die Opt-Out-Lösung ermöglicht es, dass jede:r Patient:in automatisch eine ePA hat, außer man widerspricht aktiv. Das erleichtert den Zugang zu wichtigen Gesundheitsdaten enorm. Patient:innen können sicher sein, dass ihre Daten jederzeit verfügbar sind, was besonders in Notfällen oder bei chronischen Erkrankungen essenziell ist.

 

Drei dringende Veränderungen im Gesundheitssystem

Andrea Buzzi: Welche drei konkreten Veränderungen im Gesundheitssystem haben die größte Dringlichkeit?

Inga Bergen: Erstens brauchen wir eine digitale ID, die mit der elektronischen Patientenakte verknüpft ist. Zweitens müssen alle Einschränkungen bei der Telemedizin aufgehoben werden. Drittens brauchen wir eine outcome-orientierte Vergütung, die sich auf den Behandlungserfolg konzentriert und nicht auf die Anzahl der durchgeführten Leistungen. All diese Schritte wären riesige Fortschritte.

Andrea Buzzi: Vielen Dank, Inga, für das inspirierende Gespräch. Es ist klar, dass Patient Centricity nicht nur den Menschen zugutekommt, sondern das gesamte System voranbringen kann.

 

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview beruht auf dem Podcast-Interview #82: Der Dr. Brinkmann-Moment vom 03. März 2023, produziert von der PR-Agentur The Medical Network.