Digitale Inklusion: Barrierefreie Medizin für alle

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Ben Cyprian Sindram Müller ist Gründer von Silberplus und hat in den letzten 15 Jahren über 900 digitale Produkte entwickelt. Sein Schwerpunkt liegt auf der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen, um eine zugängliche und inklusive Gesundheitsversorgung zu schaffen. Ben setzt sich dafür ein, dass digitale Innovationen auch Menschen mit Behinderungen erreichen und so eine digitale Zweiklassengesellschaft verhindert wird. Herzlich willkommen, Ben Cyprian Sindram Müller.

Von Andrea Buzzi, Podcast-Host E-Health-Pioneers, 30. Mai 2024

 

Wie viel digitale Inklusion im Gesundheitswesen gibt es bereits?

Andrea Buzzi: Ben, viele digitale Angebote sind noch nicht barrierefrei. Wie groß schätzt du das Problem der fehlenden digitalen Inklusion im Gesundheitswesen ein?
Ben Cyprian Sindram Müller: Die Zahl ist erschreckend hoch. Betrachtet man alle digitalen Produkte weltweit, sind schätzungsweise 97 % nicht barrierefrei. Speziell im Gesundheitswesen dürfte der Anteil immer noch bei etwa 60 bis 70 % liegen. Leider wird digitale Inklusion im Gesundheitswesen oft nicht ernst genug genommen, obwohl sie einen enormen Unterschied machen könnte.
Andrea Buzzi: Das ist wirklich alarmierend! Warum, denkst du, hat sich digitale Inklusion im Gesundheitswesen bisher so wenig durchgesetzt?
Ben Cyprian Sindram Müller: Viele Entwickler und Unternehmen haben die Bedeutung von digitaler Inklusion im Gesundheitswesen lange unterschätzt, und das schließt auch uns ein. Oft wird sie als „kompliziert“ angesehen, aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn Barrierefreiheit und digitale Inklusion von Anfang an mitgedacht werden, verursachen sie nur etwa 5 % zusätzliche Kosten. Werden sie jedoch erst später implementiert, können die Mehrkosten bis zu 100 % betragen.

Was treibt einen Pionier der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen an?

Andrea Buzzi: Was hat dich ursprünglich dazu gebracht, digitale Inklusion im Gesundheitswesen in den Fokus zu rücken?
Ben Cyprian Sindram Müller: Der Wendepunkt kam, als ich realisierte, wie viele Menschen durch mangelnde digitale Zugänglichkeit ausgeschlossen werden – und das in einer Zeit, in der digitale Innovationen das Potenzial haben, Leben zu retten und die Gesundheitsversorgung grundlegend zu verbessern. Besonders prägend war ein Projekt, das wir gemeinsam mit der RWTH Aachen umgesetzt haben: Wir entwickelten eine sprachgesteuerte Assistenzlösung für schwerkranke Patienten auf Intensivstationen. Diese „Alexa“ für das Gesundheitswesen erleichtert das Leben sowohl für Patienten als auch für das Pflegepersonal erheblich. Es war bewegend zu sehen, welchen Unterschied so eine Technologie machen kann.
Andrea Buzzi: Dieses Projekt klingt wirklich beeindruckend. Was genau hat euch an diesem Projekt besonders stolz gemacht?
Ben Cyprian Sindram Müller: Die Auswirkungen auf das Leben der Patienten und des Pflegepersonals waren enorm. Die Assistenzlösung konnte die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte reduzieren und gleichzeitig die Versorgung der Patienten verbessern. Das Gefühl, direkt das Leben von Menschen positiv zu beeinflussen, ist unbezahlbar. Es zeigt, wie wichtig es ist, dass technologische Innovationen alle erreichen – besonders die Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Innovation oder Vision? – Digitale Inklusion im Gesundheitswesen als Standard

Andrea Buzzi: Ist inklusives Design im Gesundheitswesen mittlerweile gelebte Praxis, oder bleibt es weiterhin nur ein Ziel?
Ben Cyprian Sindram Müller: In der öffentlichen Hand wird Barrierefreiheit und digitale Inklusion im Gesundheitswesen zunehmend gefordert, aber in der Privatwirtschaft ist sie noch weit entfernt von der Realität. In den meisten Projekten, an denen wir arbeiten, spielt digitale Inklusion leider nur eine untergeordnete Rolle – wenn überhaupt. Dabei sollte sie von Anfang an in jede Entwicklung integriert werden. Der Aufwand ist im Vergleich zu den langfristigen Vorteilen minimal.

Künstliche Intelligenz als Treiber der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen

Andrea Buzzi: Welche Rolle kann Künstliche Intelligenz (KI) im Bereich der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen übernehmen?
Ben Cyprian Sindram Müller: KI kann eine entscheidende Rolle spielen, besonders bei der Verarbeitung großer Datenmengen und der personalisierten Betreuung. Ein gutes Beispiel ist unser KI-gestützter Symptomchecker. Er kann medizinische Informationen auf eine Art und Weise strukturieren und darstellen, die für Patienten zugänglich und verständlich ist – auch für jene, die sonst Schwierigkeiten hätten, diese Informationen zu erfassen. Darüber hinaus kann KI helfen, Diagnosen zu unterstützen und Gesundheitsdaten effizient zu durchsuchen, um Patienten schnell und zielgerichtet zu helfen.
Andrea Buzzi: Wie habt ihr KI konkret in euren Projekten eingesetzt, um Barrieren abzubauen?
Ben Cyprian Sindram Müller: Wir haben zum Beispiel einen KI-basierten Symptomchecker entwickelt, der speziell darauf ausgelegt ist, auch komplexe medizinische Begriffe in einfachere Sprache zu übersetzen. Dies ist besonders wichtig für Patienten mit eingeschränkten Sprachkenntnissen oder geringem medizinischen Wissen. Zudem arbeiten wir an Technologien, die große medizinische Dokumentationen wie PDF-Dateien durchsuchen und in leicht verständliche Formate umwandeln können. Das hilft Patienten, ihre eigenen Daten besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen.

Herausforderungen und Chancen für die Zukunft der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen

Andrea Buzzi: Was war die größte Herausforderung bei der Entwicklung eures KI-gestützten Symptomcheckers?
Ben Cyprian Sindram Müller: Eine der größten Herausforderungen war es, sicherzustellen, dass die KI nicht nur medizinisch präzise, sondern auch für alle zugänglich ist. Wir mussten sicherstellen, dass die Informationen für Menschen mit unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten, Sprachbarrieren oder Behinderungen verständlich und nutzbar sind. Das bedeutet, dass wir bei der Entwicklung immer an die unterschiedlichsten Benutzergruppen denken mussten – was zwar anspruchsvoll war, aber auch extrem lohnend.
Andrea Buzzi: Wo siehst du das digitale Gesundheitssystem in zehn Jahren?
Ben Cyprian Sindram Müller: In zehn Jahren hoffe ich, dass wir eine Gesundheitsversorgung haben, die für alle zugänglich und transparent ist. Jeder Patient sollte die Kontrolle über seine eigenen Daten haben und diese problemlos mit seinen Ärzten teilen können. Ich wünsche mir ein System, in dem digitale Barrieren abgebaut sind und jeder Mensch – unabhängig von seinen körperlichen, kognitiven oder sozialen Voraussetzungen – Zugang zu den besten verfügbaren Gesundheitsdienstleistungen hat.

Mythen über digitale Inklusion im Gesundheitswesen entkräften

Andrea Buzzi: Was sind die größten Mythen über inklusives Design im Gesundheitswesen, die du entkräften möchtest?
Ben Cyprian Sindram Müller: Einer der größten Mythen ist, dass barrierefreies Design kompliziert und teuer ist. Das stimmt einfach nicht. Wenn digitale Inklusion im Gesundheitswesen von Anfang an in den Designprozess integriert wird, sind die zusätzlichen Kosten minimal. Ein weiterer Mythos ist, dass Barrierefreiheit nur Menschen mit Behinderungen betrifft. In Wahrheit profitieren alle davon – sei es durch eine klarere Navigation, einfachere Sprache oder eine intuitivere Benutzeroberfläche.

Lernen von anderen Ländern im Bereich digitale Inklusion im Gesundheitswesen

Andrea Buzzi: Gibt es ein Land, das du als Vorbild in Sachen barrierefreie digitale Gesundheitslösungen siehst?
Ben Cyprian Sindram Müller: Die skandinavischen Länder, insbesondere Estland, sind in diesem Bereich führend. Sie haben es geschafft, digitale Lösungen nicht nur technologisch fortschrittlich, sondern auch zugänglich zu machen. In Estland hat jeder Bürger eine zentrale digitale Identität, über die er auf seine Gesundheitsdaten zugreifen kann. Diese Transparenz und Effizienz fehlen in vielen anderen Ländern, einschließlich Deutschland, noch immer.

Zusammenfassung und Ausblick: Die Zukunft der digitalen Inklusion im Gesundheitswesen

Andrea Buzzi: Ben, vielen Dank für das spannende Gespräch. Ich nehme mit, dass es nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich unerlässlich ist, Barrierefreiheit und digitale Inklusion im Gesundheitswesen mitzudenken. Du hast eindrucksvoll gezeigt, dass es nicht nur um Technologie, sondern um den Zugang und die Inklusion von Millionen von Menschen geht.
Ben Cyprian Sindram Müller: Danke, Andrea. Es war mir eine Freude, über dieses wichtige Thema zu sprechen. Die Zukunft des Gesundheitswesens liegt in einer inklusiven Digitalisierung, und ich hoffe, dass wir in den nächsten Jahren große Fortschritte machen werden.

 

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview beruht auf dem Podcast-Interview #107: Digitale Inklusion vom 30. Mai 2024, produziert von der PR-Agentur The Medical Network.