Digitale Hausarztpraxis Etteln: Wie ein Dorf die Zukunft der Medizin gestaltet
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Dr. med. Thomas Bandorski ist Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin. Er führt eine Hausarztpraxis im ostwestfälischen Bad Wünnenberg sowie ein Medizinisches Versorgungszentrum für Allgemeinmedizin und Urologie. Seit September 2024 verantwortet er zusätzlich den Aufbau der ersten digitalen Hausarztpraxis Deutschlands im 1.800-Einwohner-Dorf Etteln – ein Pilotprojekt der Techniker Krankenkasse, das die digitale hausärztliche Versorgungsassistenz (DIHVA) in der Regelversorgung erprobt.
Von Andrea Buzzi, Podcast-Host E-Health-Pioneers, 20. November 2025
Digitales Gesundheitswesen im Dorf – Warum ausgerechnet Etteln?
Andrea Buzzi: Dr. Bandorski, Etteln war lange ein unscheinbarer Ort in Ostwestfalen – heute gilt es als „digitalstes Dorf der Welt“. Warum gerade Etteln – und warum du?
Dr. Thomas Bandorski: Die Initiative ging tatsächlich aus dem Dorf selbst hervor. Vor rund zehn Jahren war Etteln von Abwanderung betroffen, die Schule sollte geschlossen werden, Baugrundstücke blieben liegen. In moderierten Arbeitsgruppen wurde überlegt, wie man den Ort wieder zukunftsfähig machen könnte – und kam zur Digitalisierung als Lösung. Glasfaser war das erste Ziel, aber statt auf die Telekom oder andere große Anbieter zu warten, hat die Dorfgemeinschaft selbst die Schächte gebuddelt. In weniger als einem Jahr wurde das ganze Dorf digitalisiert – für unter 500.000 Euro, alles in Eigenleistung.
Andrea Buzzi: Wahnsinn. Das ist echtes Community-Engagement.
Dr. Thomas Bandorski: Absolut. Digitalisierung ist da kein Schlagwort, sondern gelebte Praxis. Als dann das Thema Gesundheitsversorgung aufkam, war schnell klar: Wir wollen eine innovative, digitale Lösung. Und ich wurde als erfahrener Hausarzt aus dem Nachbardorf angefragt, das Konzept mitzugestalten und umzusetzen.
DIHVA: Die digitale Versorgungsassistenz als Lösung für Ärztemangel
Andrea Buzzi: Das Ganze ist ein Pilotprojekt mit der Techniker Krankenkasse. Erklär uns bitte, was es mit der DIHVA auf sich hat.
Dr. Thomas Bandorski: DIHVA steht für Digitale Hausärztliche Versorgungsassistenz. Die Idee dahinter: medizinisch geschulte Fachkräfte übernehmen vor Ort die Anamnese und erste Diagnostik – unterstützt durch moderne Medizingeräte und eine KI-gestützte Software. Die ärztliche Befundung erfolgt später – entweder asynchron oder per Videosprechstunde. Das ist kein Ersatz für den Arzt, sondern eine Entlastung und intelligente Ergänzung.
Andrea Buzzi: Wie kam es zur Kooperation mit der TK?
Dr. Thomas Bandorski: Über die Firma DIVA (Digitale Versorgungsassistenz), die bereits ein entsprechendes Softwaresystem entwickelt hatte. Die TK hat gemeinsam mit den Gründern einen Selektivvertrag aufgesetzt. So wurde Etteln der erste Pilotstandort. Wir stellen die Infrastruktur, die medizinischen Fachkräfte und sorgen für die Integration ins Versorgungssystem.
Andrea Buzzi: Du betreibst bereits eine eigene Praxis und ein MVZ – warum noch ein weiteres Projekt?
Dr. Thomas Bandorski: Weil ich fest daran glaube, dass wir die medizinische Versorgung neu denken müssen. 30 % der Hausärzte in NRW sind über 60 – Nachfolger fehlen. Das DIHVA-Modell bietet eine realistische Möglichkeit, diese Lücke im ländlichen Raum zu schließen.
So funktioniert der Besuch in der digitalen Praxis
Andrea Buzzi: Führ uns doch einmal durch einen typischen Patientenbesuch in der Praxis in Etteln.
Dr. Thomas Bandorski: Alles beginnt mit einer Online-Terminbuchung. In der Praxis wird der Patient von einer medizinischen Fachkraft empfangen. Gemeinsam füllen sie einen KI-gestützten Anamnesebogen aus. Die KI schlägt mögliche Diagnosen vor und empfiehlt notwendige Untersuchungen. Zum Beispiel: Ein Patient klagt über Halsschmerzen und Ohrenschmerzen – dann fordert die KI Bilder vom Rachen, Trommelfell und einen Lymphknotenstatus an.
Andrea Buzzi: Und diese Untersuchungen macht die Fachkraft?
Dr. Thomas Bandorski: Genau. Die Fachkraft führt die Untersuchungen durch, die Technik liefert hochauflösende Bilder. Die Daten – inklusive Anamnesebogen – werden dann an mich übermittelt. Ich werte sie aus und entscheide: Kann ich direkt therapieren oder brauche ich ein Videogespräch? In 80–90 % der Fälle kann ich direkt handeln.
Andrea Buzzi: Das klingt nach einem echten Effizienzgewinn.
Dr. Thomas Bandorski: Das ist es. Wir sparen den Patienten lange Fahrten und Wartezeiten – bei gleichbleibend hoher Qualität. Gerade bei Routinefällen ist das enorm wertvoll.
Zwischen Hausarzt, Fachkraft und KI – Wer hat das Sagen?
Andrea Buzzi: Die Fachkraft übernimmt viel Verantwortung. Wie viel Kontrolle gibst du als Arzt ab?
Dr. Thomas Bandorski: Ich sehe das nicht als Kontrollverlust, sondern als Teamarbeit. Zwei der Mitarbeiterinnen habe ich selbst ausgebildet. Die finale Entscheidung und Verantwortung liegt immer beim Arzt. Die KI ist ein Werkzeug, kein Ersatz. Es braucht ärztliche Erfahrung, um richtig zu bewerten.
Andrea Buzzi: Du hast vorhin die USA erwähnt – dort übernehmen viele Fachkräfte Aufgaben, die bei uns noch ärztlich sind.
Dr. Thomas Bandorski: Genau. In den USA ist es völlig normal, dass Ultraschall oder EKG von anderen Professionen durchgeführt werden. Der Arzt interpretiert die Ergebnisse. Auch in Baden-Württemberg gibt es mit dem „Happy-Projekt“ ähnliche Ansätze. Es geht darum, Ressourcen intelligent zu nutzen – ohne Qualitätseinbußen.
Digitale Diagnostik, Videosprechstunden und asynchrone Befunde
Andrea Buzzi: Wie hoch ist der Anteil der digitalen Leistungen in deiner Praxis?
Dr. Thomas Bandorski: Aktuell etwa 10 %, Tendenz steigend. Vor allem in der Nachsorge: Warum soll ein Patient 40 Minuten zur Besprechung eines Langzeitblutdrucks fahren? Er bekommt das Ergebnis digital, inklusive Therapieempfehlung. Das ist zeitgemäß und spart Ressourcen.
Andrea Buzzi: Nutzt ihr auch KI bei der Auswertung?
Dr. Thomas Bandorski: Ja, etwa beim Screening von Hautveränderungen mit einem Dermatoskop. Die Bilder gehen an ein dermatologisches Fachkonsil – binnen 24 Stunden liegt die Einschätzung vor. Auch in der Schlafdiagnostik nutzen wir Tools wie ambulante Apnoe-Screenings.
Datenschutz & Patientenverständnis
Andrea Buzzi: Ein sensibles Thema: Wie steht es um den Datenschutz?
Dr. Thomas Bandorski: Wir erfassen nur relevante Daten und dokumentieren jede Entscheidung. Wichtig ist, dass Patient:innen verstehen, was mit ihren Daten passiert. Wir setzen auf Transparenz und Aufklärung – das schafft Vertrauen.
Andrea Buzzi: Gibt es Akzeptanzprobleme bei den Menschen?
Dr. Thomas Bandorski: Nein. Im Gegenteil – viele sind technikaffin, tragen Smartwatches, bringen Gesundheitsdaten mit. Entscheidend ist, dass wir diese Daten einordnen können. Ich bekomme regelmäßig PDF-Ausdrucke von Apple Watch EKGs – oft liegt da bereits eine klare Diagnose vor.
Vom Gesundheitskiosk bis Amazon Health: Zukunftsvisionen
Andrea Buzzi: Denkst du, dass wir bald voll digitale Gesundheitskioske haben – ganz ohne Arztkontakt?
Dr. Thomas Bandorski: Technisch wäre das möglich. Aber wir dürfen nicht vergessen: Der Arzt ist auch ein sozialer Faktor. Es gibt Menschen, die die „Droge Arzt“ brauchen – der persönliche Kontakt kann heilend wirken. Dennoch gibt es Bereiche, in denen vollautomatisierte Diagnostik funktionieren kann – zum Beispiel in der Dermatologie oder bei Infekten.
Andrea Buzzi: Du hast Amazon Health erwähnt – wie schätzt du deren Rolle ein?
Dr. Thomas Bandorski: Amazon investiert strategisch klug: eigene Krankenkassen, Medikamentenlogistik, Telemedizin. Sie werden über niedrigere Kosten Druck auf etablierte Systeme ausüben. Die Kombination aus Infrastruktur, KI und Marktmacht kann unsere Versorgungsstrukturen herausfordern.
Vom Pilotprojekt zur Regelversorgung – Was die Politik tun muss
Andrea Buzzi: Was müsste passieren, damit mehr Ärzt:innen deinem Beispiel folgen?
Dr. Thomas Bandorski: Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Erstens: Projekte, die über Innovationsfonds gefördert wurden und erfolgreich evaluiert sind, müssen automatisch in die Regelversorgung übergehen. Es kann nicht sein, dass vielversprechende Ansätze nach drei Jahren wieder verschwinden. Zweitens: Regionale Initiativen müssen ernst genommen und unterstützt werden. Es braucht nicht immer die bundesweite Lösung – manchmal reicht es, wenn ein Ort wie Etteln einfach mal machen darf.
Andrea Buzzi: Was würdest du anderen Ärzt:innen raten, die auch ein DIHVA-Projekt starten wollen?
Dr. Thomas Bandorski: Technisch ist alles da. DIVA bietet fertige Lösungen im „Digital-Rucksack“. Entscheidend ist der Wille zur Veränderung – und Partner vor Ort, die das unterstützen. In Etteln übernimmt die Gemeinde die Miete der Praxisräume. Das zeigt: Gesundheit ist auch ein Standortfaktor.
Fazit: Mehr Mut, mehr Mindset, mehr Machen
Andrea Buzzi: Was nimmst du aus dem Projekt persönlich mit?
Dr. Thomas Bandorski: Vor allem eines: Digitalisierung ist möglich – wenn man sie will. Wir müssen nicht auf perfekte gesetzliche Rahmenbedingungen warten. Die Technik ist da, die Tools sind da. Es ist eine Frage des Mindsets. Ärmel hoch und machen.
Andrea Buzzi: Vielen Dank, Dr. Bandorski, für diesen tiefen Einblick in ein Projekt, das zeigt, wie Versorgung auf dem Land in Zukunft funktionieren kann.
Dr. Thomas Bandorski: Danke – es war mir ein großes Vergnügen.
Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview beruht auf dem Podcast-Interview #137: Die Droge Arzt vom 20. November 2025, produziert von der PR-Agentur The Medical Network.


